Literaturnobelpreis 1926: Grazia Deledda

Literaturnobelpreis 1926: Grazia Deledda
Literaturnobelpreis 1926: Grazia Deledda
 
Die Italienerin erhielt den Nobelpreis für ihre Literatur, »die das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt«.
 
 
Grazia Deledda, * Nuoro (Sardinien) 27. 9. 1871; ✝ Rom 15. 8. 1936; Tochter eines wohlhabenden Grundbesitzers, auf den Besuch der Volksschule folgte privater Sprachunterricht, erste Veröffentlichungen in sardischen Zeitschriften und Zeitungen, 1896 erster Roman, 1900 Übersiedlung nach Rom.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Wurzeln von Deleddas Erzählungen liegen in einer ländlichen, von der Kultur des italienischen Festlands unberührten Welt. Es ist die Welt der Barbagia, biblisch und heidnisch zugleich, in der die Menschen sich durch einen tiefen pantheistischen und animistischen Glauben mit der Natur verbunden fühlen, wo göttliche Vorsehung und böse Mächte gleichzeitig die Regie zu führen scheinen. Das Sardinien, das sie beschreibt, spiegelt weniger eine geographische denn eine poetische Wirklichkeit, wie sie ihrer Fantasie und ihrer durch das Studium der Romantik und der russischen Literatur der Moderne geschulten Empfindung erscheint. Sie widmete sich intensiv anthropologischen Studien über die autochthonen und fremden Kulturen ihrer Insel, indem sie Lieder, Legenden, Totenrituale, Märchen und Sprüche sammelte, die sie unter dem Titel »Tradizioni popolari di Nuoro in Sardegna« veröffentlichte.
 
 Themen und Motive
 
Deleddas Erzählungen spielen außerhalb der historischen Zeit in einem mythischen Raum, in dem die Tragödie zu Hause ist. Das Schicksal treibt die Menschen um wie »Canne al vento« (italienisch; Schilf im Wind oder Schweres Blut), so der Titel ihres wohl bekanntesten Romans von 1913. Darin wird das Leiden eines Knechts beschrieben, der in Notwehr seinen Herrn tötet und zum Werkzeug der eigenen Selbstbestrafung wird. Das Drama findet im Innern seines Gewissens statt; von seiner Schuld getrieben begibt er sich auf eine Pilgerreise. Wie im Mythos wiederholt der Einzelne die ewige Wanderschaft der Menschheit in Gegenwart der Natur und daher des Göttlichen, aber ohne übernatürliche Hilfe.
 
Die Liebe ist eines der großen Themen Deleddas. In einer patriarchalischen Gesellschaft, in der jede Entfernung von der familiären Tradition als Sünde betrachtet wird, hat Leidenschaft keine Berechtigung; ihr Ausbruch endet fast unweigerlich in Leid und Reue.
 
Deleddas Bücher sind Schicksalsromane, die oft Frauen als zentrale Figuren haben, die in Konflikten um Ehre, Glaube und gesellschaftliche Vorurteile zerrieben werden. In »Elias Portulu« (1903) wird das Drama eines Hirten erzählt, der durch Gott berufen wird, gleichzeitig aber seine Schwägerin Maddalena leidenschaftlich begehrt.
 
Ein häufiges Motiv in vielen Erzählungen und Romanen Deleddas ist die Mutterliebe, insbesondere die starke Mutter-Sohn-Beziehung. In »La madre« (italienisch; Die Mutter; 1920) erkennt die Mutter eines Priesters, dass ihr Sohn einem Mädchen verfallen ist. Sie erreicht zwar die seelische Rettung des Sohns, stirbt aber selbst. Liebe und schuldhafte Verstrickung sind das Thema eines anderen großen Romans, »Marianna Sirca« (1915) — die Geschichte der Beziehung zwischen einem reich gewordenen Mädchen und einem Banditen. Der Konflikt entfaltet sich zwischen der Frau, die den Gesuchten zur Aufgabe bewegen will und ihm verspricht, auf ihn zu warten, und dem Mann, der nur in Freiheit leben kann. Durch ihren Stolz verursacht Marianna den Tod des Geliebten, der in einen Hinterhalt gerät. Ihre Leidenschaft ist »eine erschreckende und nicht abzuschwächende Macht, jener ähnlich, die eines Nachts das Haus ihrer früheren Herrschaft zerstört hat«.
 
 Literarische Zuordnung
 
Der Erzählstil Deleddas, in einer feierlichen, getragenen Sprache, die aber auch eine sparsame Verwendung von sardischen Ausdrücken kennt, lässt sich schwer einer bestimmten literarischen Richtung zuordnen. Ihre Nähe zum Verismus, der italienischen Variante des Naturalismus, kann man lediglich in dem Interesse für die Geschicke der einfachen Menschen und der Vorliebe für den ländlich-regionalen Kontext, in dem sie agieren, ausmachen. Deutlicher ist die Neigung zu den literarischen Mustern der Spätromantik, die sowohl mit idealistischen als auch mit positivistischen Elementen durchsetzt sind. Charakteristisch dabei ist die Vorliebe für Grenzsituationen wie Sünde, Inzest, den gewaltsamen Tod.
 
 Natur, Persönlichkeit und Religion
 
Besondere Beachtung verdienen in Deleddas Werk die Beschreibungen von Natur und Landschaft. Die Erde wird als Quelle angesehen, aus der die Menschen ihre Kraft schöpfen. Im Erlebnis der Korrespondenz zwischen seelischen Empfindungen und Naturstimmung stillen die oft naiven Figuren ihre unbewusste Sehnsucht nach Unendlichkeit. Nicht immer glückt hingegen der Versuch, in die tieferen Schichten der menschlichen Persönlichkeit einzudringen. Oft vermisst man in den Romanen, die Versuchung und Schuldverstrickung behandeln, die Tiefe in der Analyse der Konflikte und der Spaltung der Seele. Demgegenüber erscheint die Kurzform, die Deledda meisterhaft beherrscht, als passend für Situationen, die symbolischen Charakter haben. Ihre Erzählweise lässt eine Verlagerung des Epischen in die Ebene des Dramatischen und Psychologischen erkennen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Konflikte in moralische zu verwandeln vermag. Die genaue, objektive Beschreibung von Natur und Gesellschaft der Naturalisten ist einer subjektiv gefärbten Sicht der Dinge gewichen, die keinen Raum für eine soziale Anklage lässt. Deleddas Kunst mündet in eine Religiosität, die zur Buße neigt. Sardinien ist durch sie zu einem Symbol des Lebens geworden.
 
Diese Charakteristik der Erzählweise Deleddas erschien den Sarden als fremd: Sie vermissten in ihren Texten ein kritisch-historisches Bewusstsein für die Probleme, die die Menschen bewältigen müssen. Man warf ihr vor, ein archaisches und primitives Bild Sardiniens entworfen zu haben; ihr Stil — bar jeden folkloristischen Zugeständnisses, aber auch jeder Öffnung zum Neuen und zum Realistischen — stieß auf wenig Gegenliebe. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass die Stockholmer Jury die mythische Kraft ihrer Poesie und den »Realismus und Idealismus« ihrer Kunst zu würdigen wusste. Sie schlossen »die kleine Frau, sicher in ihrer Weisheit und ohne einen Schatten von Pose« (so die damalige Presse) in ihre Herzen. Mittlerweile ist man auch in ihrer Heimat zu einem gerechteren Urteil gekommen. Die heutige Kritik zeigt Anerkennung für ihre Verdienste als Bewahrerin einer alten, vor allem mündlichen Kultur und schätzt sie als bedeutende Erzählerin.
 
F. Janowski

Universal-Lexikon. 2012.

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